9 Alte Frauenklinik

Alte Frauenklinik
Alte Frauenklinik, Herbst 2015, Foto: Bernhard Kleeschulte
Frauenklinik, 1951, Foto: vermutlich Gebrüder Metz, Scan vom Farbnegativ, Bildrechte: Stadtarchiv Tübingen
Frauenklinik, 1951, Foto: vermutlich Gebrüder Metz, Scan vom Farbnegativ, Bildrechte: Stadtarchiv Tübingen
Haus der Akademischen Gesellschaft Rothenburg in der Schlossbergstraße 23
Haus der Akademischen Gesellschaft Rothenburg in der Schlossbergstraße 23, Postkarte der Gebrüder Metz, Bildrechte: Haus der Geschichte Baden-Württemberg

9 Alte Frauenklinik

Schleichstraße 4–8, 72076 Tübingen

In der Frauenklinik ließen sich 1945 zahlreiche Frauen behandeln, die von französischen Soldaten vergewaltigt worden waren.

Vor allem in den ersten Tagen nach dem Einmarsch wurden zahlreiche Tübinger Frauen von französischen Soldaten vergewaltigt. Eine Zeitzeugin berichtete: „Überall in Tübingen konnte man Frauen und Mädchen laut um Hilfe schreien hören. Wir hatten alle furchtbare Angst.“ Viele hielten sich tagelang versteckt. Einige setzten sich mutig zur Wehr. Trotzdem war die Bilanz erschreckend. Bis Mitte September 1945 ließen sich in der Tübinger Frauenklinik 977 Opfer sexueller Gewalt untersuchen. Knapp 400 stammten aus dem Stadtgebiet. Zwei Drittel von ihnen waren im Zeitraum zwischen dem 19. April und dem 8. Mai vergewaltigt worden. Die Frauen kamen zur Behandlung, weil sie Angst vor Geschlechtskrankheiten hatten oder schwanger wurden. Wie viele schwiegen oder sich andernorts behandeln ließen, lässt sich kaum abschätzen.

Sexuelle Gewalt ist ein geläufiges Kriegsphänomen, das beim alliierten Einmarsch fast überall in Deutschland auftrat. Auch deutsche Soldaten vergewaltigten im Zweiten Weltkrieg Millionen von Frauen. Dennoch deuteten viele Tübinger die Übergriffe als Charaktereigenschaft der französischen Besatzer und ihrer Kolonialtruppen. Angesichts rigoroser Zensur verschmolzen die apokalyptischen Prophezeiungen der nationalsozialistischen Propaganda mit tatsächlich Erlebtem und Gerüchten zum rassistischen Zerrbild des „marokkanischen“ Vergewaltigers. Bezeichnenderweise zählte die Hautfarbe der Täter zu den Kriterien, auf deren Grundlage die Ärzte mit städtischer Vollmacht über Abtreibungen entschieden. Einige „Besatzungskinder“ wurden offenbar auf dem Französischen Militärfriedhof bestattet.

Zwar drohte Vergewaltigern die Todesstrafe. Doch solange der Krieg andauerte und die Militärverwaltung nicht fest etabliert war, konnten Täter kaum gefasst werden. Um die Übergriffe einzudämmen, drängte die Besatzungsmacht auf die Einrichtung sogenannter Maisons de Tolérance. Hier sollten sich Frauen „ohne Zwang“ für Besatzungssoldaten prostituieren. Lizenzierte Bordelle waren in Frankreich noch bis 1946 gesetzlich geregelte Praxis. Sie sollten eine Kontrolle der Prostituierten ermöglichen und die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten verhindern. Kurzzeitig existierte wohl auch eines dieser Bordelle im Verbindungshaus Rothenburg auf dem Schlossberg. Die Tübinger interpretierten dies allerdings nicht als eine Abwendung weiteren Schadens, sondern als einen Angriff auf ihr bürgerliches Moralempfinden.

Johannes Großmann

Weiterführend:
Elke Gaugele: „Nun sollten wir zu spüren bekommen, was Erobertwerden heißt“. Erfahrungen von Frauen im Landkreis Tübingen beim Einmarsch der französischen Besatzungstruppen, in: Tübinger Blätter 82 (1996), S. 28–32.

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